GOTTES HAND STREICHELT DIE ERDE

Erlöse uns von dem Bösen

Bevor ich meine Wanderung durch die Notstandsgebiete dieser Erde begann, hat Gott mich den tieferen Sinn des Bösen begreifen lassen. Ohne diese besondere Einsicht, die ich während der Kriegsjahre in der Einsamkeit meiner Klosterzelle in Tongerlo erlangt habe, hätte mein Glauben im Ozean des Elends, den ich ruhelos durchqueren muss, Schiffbruch erlitten. Nach so vielen Jahren will ich versuchen, die Gedanken zu sammeln, die mir als jungem Priester einfielen, als ich mit dem Geheimnis des Bösen rang.

Es geschah an einem Sommerabend in meiner Klosterzelle. Alle Geräusche waren gestorben, die dröhnende Kriegsgewalt, das nerventötende Summen der Bomber und das giftige Bellen der Flak waren verstummt. Nur eine zerbrechliche Stille war übrig geblieben, die hauchdünn von Stern zu Stern über die Erde und die atemlose abtei gespannt war. Ich meinte zu spüren, dass Gott in dieser Stille wirkte, dass seine Hand über die Welt strich und das tiefste Wesen der Dinge und der Seelen berührte. Eine große Hand, die schaffend und heilend die Erde streifte, sanft wie die streichelnde Hand einer Mutter.

War das dieselbe Hand, die mit einem Griff tausend Sonnensysteme aus dem Abgrund des Nichts hervorgerückt hatte? Die die Milchstraße in den Weltraum geschleudert und die Gebirgsmassive wie weiches Wachs zu Formen wilder Schönheit geknetet hatte? Ja, es war dieselbe Hand. Genauso mächtig und groß, aber jetzt behutsam wie die Hand einer Pflegerin am Krankenlager. Gott ist unbegreiflich. Er selbst nimmt sich der kranken Menschheit an. Er betastet vorsichtig die wunden Stellen und die gebrochenen Glieder. Denn er kann nichts hassen von dem, was er geschaffen hat, und keines der Werke seiner Hände kann er verachten. Darum gestaltet er immer wieder die brechende Erde um.

Gottes Hand streichelt die Erde. Sein mildes Antlitz neigt sich voller Sorge über ihre Verletzungen. Der ewige Träger und Wiederhersteller der Dinge wandelt durch das geschändete Paradies, um aus dem menschlichen Bösen etwas Gutes zu machen. Wenn das nicht möglich wäre, würde er es ja nicht zulassen. Dann würde er uns die Pfade der Bosheit versperren. Denn wer vermag etwas gegen ihn? Selbst der Teufel steht wie ein untertäniger Diener vor seinem Antlitz und erfüllt getreu die Rolle, die ihm im Schauspiel der Schöpfung, das nur zur Verherrlichung Gottes aufgeführt wird, zugedacht ist.

Gott hat das Böse nicht erschaffen, denn er ist die Liebe, und am Abend eines jeden Schöpfungstages hat er alles sehr gut befunden. Nein, er hat das Böse nicht gewollt, aber er verhindert es auch nicht, wie leer das hohe Gut der menschlichen Freiheit nicht zerstören will und weil in seiner allmächtigen Hand sogar die Sünde noch brauchbar ist. Er sieht weiter als wir. Jedesmal wenn wir sein Werk zerbrechen, fallen die Scherben zu einem schöneren Mosaik zusammen, in dem seine Weisheit herrlicher glänzt. Er lässt das Böse zu, aber wohltuend geht er durch die Nächte der Erde, um es in Gutes zu verwandeln.

Still und ernst lässt er Bäche des Grams durch seine hohle Hand fließen, bis es Tränen der Reue und der Bußfertigkeit werden. Die Henker der Menschheit formt er mit einer flüchtigen Geste zu Werkzeugen des ewigen Heiles um. Er wählt sie als Zimmerleute des weltweiten Kreuzes der Erlösung, an dem sein Sohn bis zum Ende der Zeiten hängt und blutet, um alle zu sich hinzuziehen. Wenn Tyrannen und Kirchenverfolger in unfruchtbarem Hass und teuflischer Vernichtungswut toben, wirkt Gott in ihren Opfern heroische Hingabe und sanfte Geduld, um dem Lamm Gottes folgen zu können. Aus stöhnenden Menschentrümmern formt seine Gnade Schicksalsgenossen seines Sohnes auf Golgatha, der in seiner tiefsten Niederlage siegt. So trägt die gefolterte Menschheit den Siegeskranz des Mannes der Schmerzen zur glorreichen Parade des letzten Urteils.

Gott geht weiter und krönt die Opfer der dummen Gewalt und der feigen Übermacht zu Märtyrern und Heiligen. Sein blick ruht auf allen Einsamen und Unverstandenen, auf den Zertretenen und Verstoßenen dieser Erde, auf den namenlosen Trägern unter dem schweren Weltkreuz, die siebenmal am Tag und öfter darunter zusammenbrechen. Er segnet ihren Kampf und ihre Niederlagen und schaut lange ihrem tiefen Fall in die Abgründe der Demütigung nach, mit einem Lächeln für ihre kindliche Angst, weil er auch ihre spätere Erhöhung kennt. Die Letzten macht er zu Ersten, die Hungernden sättigt er mit geistigen Gütern, und jedes verlorene Leben setzt er um in geistigen Gewinn. Und allen gefallenen und gestorbenen Weizenkörnern in der dunklen Erde gibt er das Wachstum und die Fruchtbarkeit seiner göttlichen Liebe.

Dann kehrt er sich groß und gewaltig gegen die Fürsten der Erde und gegen die unverschämten Verfechter der Ungerechtigkeit, denen er Macht und Freiheit gab, die Kinder seiner Auserwählten zu kreuzigen. Er hat ihre Zeit gemessen. Wenn er das Maß ihrer Sünden gefüllt sieht, stürzt er ihre Throne, um sie mit Qualen zu sättigen. Aber ihre Verwerfung soll sie gesunden lassen. Darum wird er mit endloser Geduld warten, bis er sie wie verlorenen Söhne an sein Vaterherz drücken kann, das nie aufgehört hat, sie zu lieben. Sie bleiben die Zielscheibe seiner Barmherzigkeit, bis ihre Bosheit am Kreuz ihres Leidens gestorben ist und sie würdig sind, am Erbe der Heiligen im ewigen Lichte Anteil zu haben. Aber es gibt auch solche, die den stolzen Kampf gegen Gottes Liebe durchhalten bis zum bitteren Ende. Es ist die schwarze Schar der ewig Verdammten. Auch ihr Übel wird von Gottes Hand, hart und eisenstark jetzt, bis zu einem Zeugnis für seine eigene göttliche Gerechtigkeit umgebogen. Das Geknirsche ihrer Zähne wird nie verstummen und ewig verkünden, wie gut es war, dass Gott sie strafte…

Gott erneuert das Antlitz der Erde. Wie ein milder Arzt steht er am Krankenlager der Menschheit. Das missgestaltete Werk dummer Geschöpfe umgibt er mit Glanz. Wo seine Hand liebevoll die Dinge streichelt, bleibt die Schöpfung im Schimmer unberührter Schönheit liegen.

An jedem Abend habe ich etwas vom Geheimnis der Bosheit verstanden. Meine Bibel lag geöffnet bei den Worten „Sehet, ich mache alles neu…“ Und als Gott sich aus der Ferne seines hohen Sternenhimmels näherte und meine Klosterzelle mit seiner Anwesenheit erfüllte, habe ich keine Angst gehabt, wie ich mich selbst und alle anderen in seiner Hand getragen und geborgen wusste.

Ausschnitt aus dem Buch von Werenfried van Straaten – „Wo Gott weint“

 

Habe einen Abschnitt dieses Buches von Pater Werenfried van Straaten „Wo Gott weint“ abgeschrieben.
Diese Buch muß man lesen, es ist wundervoll und sehr ergreifend geschrieben – ist bei Kirche in Not zu bestellen.